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    Armin Schreiber

Armin Schreiber,

geboren 1938 in Schönau a.d. Katzbach, Autor ("Kunst:Comics") und Kunstkritiker, lebt in Hamburg. 

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Der Augenblick der Wahrnehmung -

Zu den Arbeiten von Heiner Altmeppen

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Leute, die gelegentlich in den Zoo gehen, kennen diese oder ähnliche Situationen: Da steht eine Bergziege - hat fast jeder Zoo, steht einfach so da, weder an besonders »gefährlicher Stelle« des Betonfelsens, noch im Gegenlicht auf einer der künstlichen Klippen, völlig undramatisch also, unbeweglich, frißt nicht, rennt nicht, wackelt nicht mal mit den Ohren, und man kuckt und kuckt und kann nicht genug kriegen, schaut gebannt auf dieses Tier, mit höchster Konzentration, die einen die Zeit vergessen läßt, zehn Minuten und länger!

Warum eigentlich? Schließlich passiert doch nichts! Offensichtlich aber doch und offensichtlich etwas für den Betrachter sehr Wichtiges, wenngleich es im Moment des Ereignisses meist nicht zu benennen ist: Das Bild dieser Ziege scheint ins Gehirn einzudringen. Ohne eine bewußte Anstrengung erfaßt man ihre Gestalt, auch Details dieser Gestalt, direkt, unmittelbar, ohne daß Wörter »helfen müssen«, die Wahrnehmung festzuhalten. Man ist von dem Anblick betroffen. Die Sache »springt einen an«, geht einem auf - als optische Sensation im ursprünglichen Sinn des Wortes, spürbar, als würde sie im Kopf einen Abdruck bilden. Sie löst eine konzentrierte Empfindung aus, führt zu einem spezifischen Zustand: Faszination, Spannung und Entspannung zugleich, »gesteigertes Wohlbehagen«, »Glück« - könnte man vielleicht sagen. Vorher, im Auto, auf dem Weg zum Zoo, beim Warten vor der Ampel, beim Einbiegen auf den Parkplatz oder dem Mann an der Kasse gegenüber - siebenmarkfünfzig pro Nase - verläuft alles normal. Was vor das Auge kommt, ist da wie immer, nichts ist spürbar von jener konzentrierten Empfindung. Und dann plötzlich, nachdem man sich über den einzuschlagenden Weg geeinigt, nach ein paar Metern, vor dem Gehege, in dem Moment also, wo keine praktische Entscheidung mehr zu treffen ist, wo die Sinne nicht mehr eingespannt sind zur Lieferung von Orientierungsdaten, das Sensorium gewissermaßen freigesetzt ist und zweckfrei aufnehmen kann, sieht man anders.

Die ersten ernstzunehmenden Arbeiten Heiner Altmeppens - ich nenne sie die Papenburger Landschaften - entstanden zwischen 1973 und 1975. Als ich sie vor ca. sieben Jahren zum erstenmal sah in seinem Altonaer Atelier, den Deichweg, den Strand, die Kiesgrube etc., mußte ich augenblicklich das Wort »Kindheit« denken, ausgelöst vermutlich durch das verrostete Eisenrohr im Sand, die Pfützen auf dem matschigen Weg oder das graubraune Gras in einer Mulde; durch einige Dinge also, die ich plötzlich wiedererkannte.

Auch heute noch wirken die Bilder auf mich, als habe Altmeppen die Spielplätze, die Lieblingsorte seiner Kindheit aufgesucht, um dort etwas ganz Bestimmtes zu finden, um einen Kurzschluß herzustellen zwischen dem, was er als Kind intensiv erlebt hat, und seiner gegenwärtigen Existenz.

In einigen Bildern, wie z. B. in der Gouache Kaimauer, steht er unmittelbar vor den Gegenständen und betrachtet sehr genau jedes Detail. Man meint, die Oberfläche der Dinge ertasten, den Geruch und die Tempera­tur spüren zu können.

In anderen Arbeiten geht er in die Totale, malt mit der Landschaft das Licht, das Wetter, die Jahreszeit... : War also oder ist jenes intensive Gefühl an bestimmte Dinge gebunden? Stellt es sich ein, wenn man nur genau genug hinsieht? Oder ist es die Atmosphäre, eine ganz besondere Stimmung vielleicht, die die Erscheinungen verwandelt und so zum Auslöser dieses besonderen Erlebnisses wird?

Die Antwort ist in den Bildern noch nicht enthalten, aber man empfindet deutlich die Fragen, die Heiner Altmeppen an seine Papenburger Landschaft gestellt hat: Wodurch wurde die Faszination ausgelöst? Was genau ist es gewesen - und läßt es sich in der Gegenwart wiederentdecken, das jene spezifische Betroffenheit hervorgerufen hat, angesichts so normaler, ja alltäglicher Erscheinungen?

1975 malt Heiner Altmeppen die Kiesgrube, das vorläufig letzte Bild der Papenburger Landschaften, und unmittelbar danach, ohne Übergang, ohne formale Ankündigung durch die vorausgegangenen Arbeiten, entsteht Knut, sein erstes Porträt. Der Sprung von der Kiesgrube zu Knut beinhaltet mehr als nur einen Wechsel des Motivs: Vorher war es der Blick zurück aus großer, auch aus großer zeitlicher Ferne auf diese Landschaft, dann, plötzlich, als habe er sich ruckartig umgedreht und die Augen aufgerissen, ist die Gegenwart präsent. Und mit diesem Motiv, bzw. in der Art seiner Darstellung, treten erstmals, wenn auch erst andeutungsweise, Aspekte eines individuellen Ausdrucks hervor. Sichtbar wird die besondere Eigenart, das Unverwechselbare seiner Bilder: Es ist die überraschende Plötzlichkeit, mit der die Dinge - hier ist es die Figur - auf der Bildfläche auftauchen! Im Bruchteil einer Sekunde - so scheint es - wurde der Boden, auf dem sie steht und der sie umgebende Raum aufgeräumt und leergefegt. Wo eben noch die Zigarettenkippe, die Coladose meinetwegen oder der plattgetretene Kaugummi lagen und mittendrin, als ein Ding unter anderen und Bestandteil der Situation, auch die Person zu sehen war, ist plötzlich, gleichsam vor die Bildfläche gestellt, nur die Figur vorhanden.

Man kann dieses Porträt als den Drehpunkt, vielleicht sogar als den eigentlichen Start seiner künstlerischen Entwicklung bezeichnen. Während er in Befragung der Papenburger Landschaften noch alles aufgreift, was sichtbar ist, und auch in der Darstellung weitgehend dem Augenschein folgt, also die jeweilige Situation immer wieder anders, aber immer so, wie sie sich zeigt, ins Bild bringt, weil noch völlig offen ist, wie die Antwort ausfallen wird, ist hier zumindest eine der optischen Bedingungen erkannt, unter denen sich für ihn die irritierende Verwandlung der Dinge vollzieht bzw. herstellbar wird. Sie ergibt sich -sehr kurz gesagt - durch die Umkehrung der normalerweise herrschenden Beleuchtungssituation:

In der Regel nämlich sehen wir einzelne Gegenstände vor relativ hellem Hintergrund, d.h., sie erscheinen insgesamt dunkler als etwa eine Hauswand, oder, wenn sie freistehen, der Himmel dahinter. Wir haben uns an diese Konstellation so sehr gewöhnt, daß wir gar nicht mehr hinkucken, gar nicht mehr wahrnehmen! In bestimmten Situationen aber - man denke z.B. an einen Sommerabend bei aufziehendem Gewitter, wenn der Himmel bereits dunkelgrau ist, aber das Licht der untergehenden Sonne noch auf Dächer und Bäume fällt -, in bestimmten Situationen reißen wir die Augen auf. Und in dem Moment ist es nicht mehr der bekannte Baum, sondern er wirkt fremd und neu, als sähe man ihn zum ersten Mal.

Zurück zu dem Porträt: Eine solche Szenerie liegt hier vor, und man spürt angesichts des Bildes noch heute die Überraschung des Herstellers, daß ihm Knut, den er schon lange kennt, plötzlich so überaus deutlich wird. Ob zu dem Zeitpunkt ein vergleichbares Bild auch über die Darstellung eines anderen Motivs entstanden wäre, läßt sich mit Bestimmtheit nicht sagen. Sicher ist, daß dieses plötzliche Fremdwerden einer vertrauten Erscheinung stärker bewußt wird, wenn es, wie hier geschehen, eine bekannte Person betrifft.

Ganz offensichtlich aber hat Heiner Altmeppen sofort erfaßt, daß das, was mit der Figur passiert ist, weniger mit ihr selbst, als vielmehr mit einer bestimmten optischen Konstellation zu tun hat, denn nach zwei weiteren Porträts entstehen Anfang 76 einige Stadtlandschaften, und auch hier und mit gleicher Intensität, aber nunmehr nachvollziehbar für jeden Betrachter, denn es handelt sich um höchst alltägliche Situationen, wird dieses Phänomen spürbar: Die Ampelanlage, das Verkehrszeichen, ein Tankwagen: es sind profane Dinge, aber sie erscheinen so, als würden sie andere Beleuchtung erhalten oder normales Licht anders reflektieren. Das einfallende Licht wird von den Dingen absorbiert, es verleiht ihnen eine neue, bisher so noch nicht wahrgenommene Qualität. Sie sind da, einerseits voll und ganz zur Situation gehörend, zugleich aber sind sie freigestellt, als Einzeldinge präsent, in ihrer Plastizität, in ihrer räumlichen Ausdehnung, und für einen Moment vergißt man sein Wissen über den Nutzen, über den praktischen Sinn, und registriert ihre sinnliche Wirkung.

Nach den Stadtlandschaften entstehen wieder drei Figurenbilder - Hermann und Anne, Bernd und Fritz: Die Vorbereitung eines nächsten Schrittes innerhalb seiner künstlerischen Entwicklung erfolgt auch hier wieder mit Hilfe von Personen, die ihm bekannt sind. Und dann kommen, beginnend mit Heiligengeistfeld - die Arbeit wird 1977 fertig - die für mich entscheidenden, die eigentlichen Bilder, und hier wird erkennbar, daß jener Kurzschluß, von dem eingangs die Rede war, ganz offensichtlich stattgefunden hat: Auf einem riesigen Parkplatz, dem »Heiligengeistfeld«, stehen Lastwagen vor sternklarem Himmel. Natürlich weiß man, daß sie ihr Licht von den hochstehenden Lampen des Platzes erhalten, aber die Farben scheinen zu glühen, die Fahrzeuge wirken, als würden zusätzliche Lichtquellen die Szene erleuchten.

Auf ähnliche Weise erfährt das Haus mit dem goldfarbenen Pkw davor die Verwandlung von einer alltäglichen Situation in ein sensationelles, ja magisches Ereignis. Oder das Mädchen mit dem roten Badeanzug: Wie sie da steht mit ihren kräftigen X-Beinen und lacht - sie könnte die Tochter unserer Nachbarin sein: vor der weiten, tiefblauen Wasserfläche im hellen, alles überstrahlenden Mittagslicht einer griechischen Landschaft erhält ihre Erscheinung etwas Überwirkliches.

Zuletzt das große Bild, der Blick in die nördliche Landschaft: Es herrscht absolute Klarheit, Durchsichtigkeit bis zum Horizont, eine beinahe kosmische Beleuchtung, die in die Landschaft eindringt und die Dinge erstrahlen läßt: Die Situationen wechseln, die Gegenstände wechseln, aber immer ist es dieses außerordentliche, über die Maßen intensive Licht, das sie herausreißt aus ihrer Profanität, das ihnen eine Leuchtkraft verleiht, die über ihre Gegenständlichkeit hinauszuweisen scheint, die den Betrachter trifft und den Augenblick des Hinsehens in einen Augenblick der Wahrnehmung verwandeln kann, in dem seine Frage nach dem Sinn durch die sinnliche Wirkung der dargestellten Dinge beantwortet wird.

März 1983

Erschienen im Ausstellungskatalog "Heiner Altmeppen", Stipendiaten der Karl Schmidt-Rottluff Förderungsstiftung, Mathildenhöhe Darmstadt, März-April 1983

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